Ein Kommentar
Berlin, 16.05.2025
Nur einen Tag nach dem Tod von Margot Friedländer bringt die Partei Die Linke auf ihrem Bundesparteitag in Chemnitz eine Abstimmung über eine verkürzte Antisemitismus-Definition ein – und setzt diese durch. Künftig soll ausschließlich die sogenannte „Jerusalemer Erklärung“ zur Definition von Antisemitismus verwendet und als fester Bestandteil der Parteiposition etabliert werden.
Zuvor gedachte man auf dem Bundesparteitag Margot Friedländer mit einer Schweigeminute. Dabei ignoriert und missbraucht man Friedländers Erbe und Vermächtnis zu Lebzeiten, das sie hinterlässt – „Seid Mensch.“
Die Abstimmung zur Anerkennung der „Jerusalemer Erklärung“ wurde mit insgesamt 442 Stimmen wie folgt ausgewertet: 213 Stimmen (48,19 %) entfielen auf „Ja“, 181 Stimmen (40,95 %) auf „Nein“, und 48 Stimmen (10,86 %) enthielten sich.

Die „Jerusalemer Erklärung“ hat mit Jerusalem so wenig zu tun – genauso wenig wie der darin definierte Antisemitismus mit der tatsächlichen Bandbreite antisemitischer Erscheinungsformen. Sie beruht auf fragwürdigen, teils pseudowissenschaftlichen Kriterien und ignoriert zentrale Formen des Antisemitismus, darunter israelbezogenen, linken oder muslimisch geprägten Antisemitismus. Die einzige Form, die sie konkret benennt, ist der rechte Antisemitismus samt seiner verschwörungstheoretischen Ausprägungen.
Die Linke verweigert damit die Anerkennung der international etablierten IHRA-Definition (International Holocaust Remembrance Alliance), die sowohl vom EU-Parlament als auch vom Deutschen Bundestag angenommen wurde. Kritiker*innen der IHRA werfen ihr gerne vor, keine Kritik an der israelischen Regierung zuzulassen – ein Vorwurf, der nicht haltbar ist. Natürlich ist Kritik an israelischer Politik erlaubt. Doch der Begriff der sogenannten „Israelkritik“, so wie er vielfach verwendet wird, entstammt häufig antisemitischen Denkmustern und dient als Tarnbegriff für judenfeindliche Narrative. Klar anzumerken ist, dass nicht jede Form der Kritik an Israel automatisch antisemitisch ist.
Die Entscheidung der Partei Die Linke, allein auf die „Jerusalemer Erklärung“ zu setzen, blendet viele Formen des Antisemitismus gezielt aus – insbesondere jene, die nicht aus dem rechten Spektrum stammen. Das macht die Partei blind auf dem linken Auge und taub für antisemitische Tendenzen innerhalb islamistischer oder anderer nicht-westlicher Strömungen. Dabei ist Antisemitismus – egal, von wem er kommt – zu benennen und zu bekämpfen, wenn das „Nie wieder“ ernst genommen wird.
Die Aussagen von Jan van Aken, Bundesvorsitzender von Die Linke, im ARD-Interview am 10.05.2025 zeigen den Realitätsverlust der eigenen Partei und ihrer Mitglieder. So sagte van Aken:
„Nee! Ich bin mir sicher, dass wir alle unseren eigenen Antisemitismus haben, wie wir auch alle unseren eigenen Rassismus haben. Aber dass wir als Partei antisemitisch sind, ist völlig an den Haaren herbeigezogen.“
Solche Relativierungen – die Vorstellung, dass jeder Mensch automatisch antisemitisch und rassistisch sei – verschleiern das reale Problem. Sie verhindern eine klare Benennung und Auseinandersetzung mit tatsächlichem Antisemitismus innerhalb der Partei.
Statt sich mit Kritik auseinanderzusetzen, wird der Diskurs mit „Fake News“ oder „KI-generierten Bildern“ abgetan, und Verschwörungserzählungen werden geteilt und weiterverbreitet.
Es ist richtig: Kritik an der rechtsgerichteten Regierung Netanjahus ist nicht per se antisemitisch, sondern sogar eine Notwendigkeit in einer lebendigen Demokratie. Entscheidend ist, worauf die Kritik fußt – und ob dabei Doppelstandards oder antisemitische Stereotype reproduziert werden. Wer von einer „zionistischen Weltverschwörung“ spricht oder den 7. Oktober als „Widerstand“ glorifiziert, äußert keine politische Kritik, sondern reproduziert den vernichtenden Antisemitismus und legitimiert die Vernichtung jüdischen Lebens und des einzigen jüdischen Staates der Welt.
Fakt ist: Die Linke hat von der Gegenwart bis in ihre tiefste Vergangenheit ein strukturelles Antisemitismusproblem, das vom vermeintlichen Kampf gegen Krieg, Kapitalismus und Imperialismus übertüncht wird – in dem Glauben, an der Seite der Unterdrückten, der Gerechtigkeit und des sozialistischen Idealismus zu stehen. Wie tiefgreifend der allen voran israelbezogene Antisemitismus verwurzelt ist und wie lange er bereits Bestandteil von Die Linke ist, zeigen die nachfolgenden Beispiele.
Parteiausschlussverfahren gegen Büttner statt innerparteiliche Debatte über Antisemitismus
Kurz vor dem Parteitag wurde ein Parteiausschlussverfahren gegen Andreas Büttner eingeleitet. Die Personen die diesen gegen ihn stellten, liegen Büttner vor. Jedoch wünscht er nicht die Bekanntgabe der Namen. In der Begründung heißt es:
„Andreas Büttner fällt in den sozialen Medien durchgehend mit Äußerungen bezüglich des Nah-Ost-Konflikts auf, in welchen er nicht nur eindeutig gegen geltende Parteibeschlüsse verstößt, sondern in seinen Argumentationen zum Teil auch das geltende Völkerrecht ignoriert, und somit Verstoße gegen dieses billigt und / oder relativiert. […]
Diese ÄuBerungen Büttners werden in den sozialen Medien durchgehend aufgegriffen, um die Partei Die Linke, auf Basis der scheinbaren Duldung dieser ÄuBerungen, in ein rassistisches und menschenfeindliches Lager einzuordnen. […] Seine Positionierung schlägt sich in der öffentlichen Wahrnehmung innerhalb der sozialen Medien auf die Partei nieder und setzt deren Ansehen und Glaubwürdigkeit somit offentlichkeitswirksam herab. Dieses Herabsetzen des Ansehens der Partei führt unter anderem dazu, dass bereits Organisationen eine Zusammenarbeit mit der Partei Die Linke ausschließen und dies durch Büttners Parteimitgliedschaft argumentieren.“
Anders formuliert wollen die Personen Büttner mundtot machen, mit dem Argument, dass seine pro-israelische Haltung und seine Ablehnung des Genozid-Vorwurfs gegen Israel, der Partei schadet. Dabei wird das Völkerrecht vorgeschoben, um antisemitische Rhetorik und Ressentiments in der Partei zu festigen. Gleichzeitig fallen Parteimitglieder auf die wiederholt öffentlich bekunden, dass der Internationale Gerichtshof (IGH) angeblich ein Urteil gefällt hätte, welches Israel einen Genozid in Gaza bescheinige.
Solche und ähnlichen Fake News bleiben haften und verbreiten sich in digitalen Zeitalter rassendschnell, ohne Prüfung der Sachlage.
So hat der IGH einen Entscheid und kein Urteil, vorgelegt im Verfahren. Weiter stellt er darin klar, dass das militärische Vorgehen bislang nicht als Genozid eingestuft wird, Israel jedoch aufgefordert ist, einen solchen zu verhindern und das Völkerrecht zu achten.
Dieser Entscheid schließt nicht aus, dass einzelne militärische Handlungen als Kriegsverbrechen gewertet werden könnten. Es laufen auch schon entsprechende Verfahren vor dem Militärgericht gegen Soldat*innen, einschließlich Disziplinarmaßnahmen und Suspendierungen.
Zugleich werden Büttners Äußerungen einem rassistischen Lager zugeordnet, was sich auf die Parteibasis zurückwirken soll. Solche Totschlagargumente gegen Andersdenkende sind gefährlich, weil sie tatsächlich Rassismus relativieren und innerparteiliche Debatten verhindern – denn viele Linke reden dann gar nicht mehr mit Betroffenen solcher Vorwürfe. Was Kalkül und gewollt ist von den Antragsteller*innen des Parteiausschlussverfahren.
Klar ist: Rassismus ist eine menschenfeindliche Ideologie. Rassist*innen sind Feinde der Demokratie und Freiheit. Rassismus ist – wie Antisemitismus – keine Meinung, sondern ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Israel von der Landkarte ausradiert – so sieht das nebeneinander stehende Existenzrechts Israels und Palästinas aus
Nur wenige Tage zuvor postete Ulrike Eifler voller Eifer auf X ein Bild mit schwarzem Hintergrund, auf dem steht: „All United For Free Palestine.“ Weiter ist darauf eine Person abgebildet, die eine Palästina-Flagge hochhält. Daneben ist das Staatsgebiet Israels, Gaza und der Westbank als Umriss abgebildet; darin befinden sich Hände in den Farben Weiß-Rot-Grün.
Auch auf dem Bundesparteitag in Chemnitz war keine einzige Israel-Flagge oder ein solidarisches Zeichen für die Hamas-Geiseln oder Opfer des Pogroms vom 7. Oktober zu sehen. Dafür trugen viele Kufiyatücher und es war sogar eine Tischflagge von Palästina zu sehen. So sieht das „Existenzrecht Palästinas und Israels nebeneinander“ aus, von dem van Aken im ARD-Interview sprach – und das angeblich gleichermaßen für beide gilt.

Gleichzeitig stört sich Die Linke, bis dato scheinbar nicht daran, wenn Vertreterinnen an Demonstrationen teilnehmen, auf denen zu Gewalt gegen und Mord an Jüdinnen/Juden aufgerufen wird. Nicht selten apostrophieren sie sich dabei als Antifaschistinnen, Queers und als Unterstützerinnen emanzipatorische Bewegungen. Dabei stehen sie zusammen mit Anhängern terroristischer Vereinigungen, Islamistinnen und rechts-offenen Aktivist*innen Hand in Hand – diese Querfront stört keineswegs. Es zeigt, wie weit sich Die Linke von ihrem eigenen antifaschistischen Anspruch entfernt hat.
Zusammen an Bord mit islamistischen Dschihadisten und Extremisten jeglicher Couleur – die erste Austrittswelle
An der Gaza-Flottille 2010 nahmen Norman Paech sowie die beiden Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Inge Höger von der Partei Die Linke teil. Dies löste eine heftige innerparteiliche Debatte aus, die zur ersten größeren Austrittswelle aufgrund israelkritischer und antisemitischer Positionierungen führte.
Kritisiert wurde dabei unter anderem, dass es an Bord der Flottille eine strikte Geschlechtertrennung gab, Frauen unter Deck bleiben mussten und ein Kopftuchzwang sowie ein insgesamt misogynes Verhalten herrschten. Das humanitäre Anliegen – die Lieferung von Hilfsgütern per Schiff – war nicht das einzige Ziel. Bei der Durchsuchung der Ladung wurden auch Waffen gefunden, die zwischen Lebensmitteln versteckt waren.
Ein gesichertes Geleit in den Hafen von Haifa sowie eine dortige Kontrolle durch israelische Behörden lehnten die Organisatoren von Beginn an ab. Ziel war es offenbar, Bilder zu erzeugen, die Israel international diskreditieren sollten – obwohl die israelische Regierung zugesichert hatte, alle Hilfsgüter mit Ausnahme von Waffen nach Gaza zu transportieren, wobei auch Vertreter*innen der Flottille dies hätten begleiten können.
Stattdessen wurde die Fahrt ohne Rücksicht auf Funksprüche fortgesetzt. In der Folge wurde die „Mavi Marmara“ geentert. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Aktivisten und israelischen Sicherheitskräften.
Nach ihrer Rückkehr erstatteten Paech, Groth und Höger Strafanzeige gegen Unbekannt und warfen dem israelischen Militär unter anderem Freiheitsberaubung sowie die Mitverantwortung der militärischen Befehlshaber für mutmaßliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.
Als die Beteiligung der drei an der Operation „Sea Breeze“ – auch bekannt als Ship-to-Gaza-Konvoi oder Gaza-Flottille – bekannt wurde, folgten breite antifaschistische Proteste. Eine Aktion unter dem Titel „Eine Flasche Yarden-Wein gegen das Parteibuch“ machte medienwirksam auf die Vorwürfe aufmerksam. Der gewählte Wein verwies auf den Buchtitel Ein Gläschen Yarden-Wein auf dem israelischen Golan von Karl Selent, einem linken Autor und Vertreter kritischer Theorie sowie materialistischer Gesellschaftsanalyse.
Scheinbar nichts dazugelernt – Austrittswelle die Zweite
Ende Oktober 2024 kam es zur zweiten großen Austrittswelle von führenden und überparteilich angesehenen Parteimitgliedern aus der Partei Die Linke. Unter ihnen befanden sich u. a. Elke Breitenbach, Klaus Lederer, Sebastian Scheel, Carsten Schatz sowie Sebastian Schlüsselburg. Der zentrale Auslöser ist der persistente, tief verankerte israelbezogene Antisemitismus, der bereits in der SED weit verbreitet war.
Unter dem Deckmantel des Antizionismus und Anti-Israelismus – wie zu SED-Zeiten – wird Antisemitismus bis heute, von der Nachfolgepartei Die Linke salonfähig gehalten. Immer getarnt mit sozialistischen Grüßen gegen Imperialismus und Kolonialismus wird gegen Zionismus und Israel sowie manchmal ganz unverhohlen gegen Juden/Jüdinnen gewettert. Die Losung „Zionismus ist Faschismus“ – häufig auf Veranstaltungen zu vernehmen – findet breiten Einklang in Die Linke.
Zugleich wehen die Parteiflaggen einträchtig auf Demonstrationen, auf denen die Shoah verharmlost und relativiert wird, während Parteimitglieder stumm daneben stehen oder ins selbe Horn blasen. Die eigene Verantwortung und Aufarbeitung des Antisemitismus als Nachfolgepartei der SED wird verschwiegen und verkannt. Stattdessen übernimmt man ungefiltert Verschwörungserzählungen wie die des Nakba-Mythos, verklärt den Märtyrertod und Terrorismus und bezeichnet den 7. Oktober als Widerstand und Freiheitskampf oder findet Rechtfertigung ein vermeintlichen Verzweiflungshandlung.
Antisemitismus Geheimrezept zum Wahlerfolg
Die Linke profitierte in großen Teilen von diesem antisemitischen Klima, auf den Straßen und innerhalb des Mitgliederzuwachs und erzielt bei den Bundestagswahlen 2025 somit einen neuen Wahlerfolg mit 8,8%. Zugleich verzeichnet Die Linke nach der zweiten Austrittswelle einen Höchststand neuer Mitgliedern. Diese wiederum übernehmen die Führung und befeuern mit ihrer rückwärtsgewandten Haltung im Erbe der SED eine antisemitische Metamorphose, wie sie zuvor in der Größe nie vorhanden war.
Insofern trifft van Akens Äußerung auf die Partei zu: Der eigene Antisemitismus und Rassismus hat in der Partei Platz gefunden und wird blindlings festgehalten. Dabei wird jedoch jenen der Rassismus-Vorwurf gemacht, aus der Partei heraus, die sich gegen das erstarken von Antisemitismus einsetzen und Haltung bekennen und das Problem sowie die Bandbreite des Antisemitismus offenlegen.
Was übrig bleibt – ein ewiglich antisemitisches Ressentiment, mit Zuwachsgarantie
Der billigende, leichtfertige und gezielt gesteuerte Antisemitismus in der Partei Die Linke ist eine Gefahr für Jüdinnen und Juden in Deutschland sowie für das Existenzrecht Israels.
Die Relativierungen, Verklärungen und das Ausblenden von Antisemitismus – bis hin zur Gutheißung bewaffneten Terrors – sind Wegbereiter des Totalitarismus und ein Angriff auf Demokratie und Freiheit.
Der Freispruch via der „Jerusalem-Erklärung“, den sich Die Linke als Persilschein ausstellt, zeigt die Selbstüberschätzung und Ignoranz gegenüber der Realität des prosperierenden Antisemitismus und dem Mitgliederzuwachs der Partei. Die Doppelstandards und die Doppelmoral, die von Parteimitgliedern vertreten werden, sind daher allzu häufig als antisemitisch zu bewerten.
Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit als SED-Nachfolgepartei sowie mit dem bestehenden Antisemitismus wirft die ernsthafte Frage auf: Wie viel bleibt vom Versprechen „Nie wieder – ist jetzt“ bei dieser Partei überhaupt noch glaubwürdig übrig?
Die Linke verrät einmal mehr den Antifaschismus durch ihr Handeln.
Gelebter demokratischer Antifaschismus, der die individuelle Freiheit des einzelnen Menschen beinhaltet, kann keinen Platz für Antisemitismus, Rassismus, Homo-/Transphobie, Muslimfeindlichkeit, Xenophobie und Misogynie haben.
Das Menschsein verpflichtet uns, Antisemitismus – egal aus welcher Richtung – klar zu benennen und die Demokratie jeden Tag neu zu verteidigen.
Es bleibt am Ende, an die Worte Margot Friedländers zu erinnern:
„Es gibt kein jüdisches Blut, kein christliches Blut, kein muslimisches Blut – es gibt nur menschliches Blut. Darum: Seid Mensch.“
